Politische Korruption in historischer Perspektive

Politische Korruption in historischer Perspektive

Organisatoren
Matthias Braasch, Niels Grüne, Simona Slanicka, Andreas Suter; Sonderforschungsbereich 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.02.2008 - 22.02.2008
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Von
Christian Fieseler, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg; Felix Saurbier, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Vom 20. bis 22. Februar 2008 fand im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld eine Konferenz mit dem Titel „Politische Korruption in historischer Perspektive“ statt. Die Tagung wurde von Matthias Braasch, Niels Grüne, Simona Slanicka und Andreas Suter organisiert und in Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ ausgerichtet. Gemäß der interdisziplinären Zielsetzung trafen sich rund 40 Vertreter aus Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Theologie sowie der Wirtschafts- und Rechtswissenschaft, um die Chancen und Grenzen eines fächerübergreifenden Dialogs in der Untersuchung von Korruptionsphänomenen auszuloten. Auf der Basis von 19 Einzelreferaten bot insbesondere die Konfrontation von normativen, analytischen und praxisorientierten Korruptionsbegriffen aus den verschiedenen Teildisziplinen Gelegenheit zu anregenden Diskussionen. In seinem Geleitwort lenkte Willibald Steinmetz als Sprecher des SFB den Blick auf die Möglichkeiten einer Einbettung der Korruptionsforschung in eine Diskurs- und Kulturgeschichte des Politischen. Seitens der Organisatoren skizzierte anschließend Simona Slanicka vor dem Hintergrund jüngerer Korruptionsaffären einige Kernaspekte der historischen Beschäftigung mit diesem Thema.

Die fünf Referate der ersten Sektion unter der Leitung von Gerd Schwerhoff befassten sich mit „konzeptionellen Orientierungen und theoretischen Interpretationsansätzen“ und dienten damit einer grundlegenden Begriffs- und Methodenbestimmung. Der zum Auftakt vorgesehene Vortrag über politikwissenschaftliche Korruptionsmodelle von Harald Bluhm fiel kurzfristig aus, so dass der Rechtsethnologe GERHARD ANDERS, der sich gegen ein einseitiges Verständnis von Korruption als soziales und rechtliches Devianzphänomen aussprach, die Sektion eröffnete. Stattdessen plädierte er für Analyseansätze, die sich der Untersuchung von Anti-Korruptionsdiskursen oder der Korruption als integralem Bestandteil des sozio-politischen Gefüges zuwenden. Dies erlaube die Überwindung von Stigmatisierungen und könne die Ausblendung positiver systemstabilisierender Effekte des Phänomens vermeiden helfen.

DIETER HALLER wies aus sozialanthropologischer Perspektive auf die besondere Eignung ethnologischer Forschungsthemen hin, um einen Zugang zu Korruptionsphänomenen zu erlangen. Die Erforschung von Praktiken wie Verbrüderungsritualen oder dem Gabentausch könne sich als aufschlussreich im Hinblick auf als korrupt bezeichnete Handlungen erweisen. Eine methodische Leistung, die die Ethnologie auf diesem Feld erbringen könne, sei in erster Linie ein moralisch neutraler Kulturvergleich und damit die Überwindung hegemonialer, eurozentristischer Wertvorstellungen. In der anschließenden Diskussion beider Vorträge wurde deutlich, dass der ethnologische Zugriff nicht zwingend eines analytischen Vorverständnisses von Korruption bedürfe: Die Entschlüsselung sozialer Logiken könne induktiv mittels der Feldforschung und der teilnehmenden Beobachtung geleistet werden.

Der nachfolgende Vortrag des Soziologen PETER GRAEFF näherte sich dem Untersuchungsgegenstand aus entgegengesetzter Perspektive. In seinem handlungstheoretischen Korruptionsmodell des „Amtsmissbrauchs“ entwarf er einen Analyserahmen, dessen Schwerpunkt auf den drei Faktoren Amt, Freiwilligkeit und Reziprozitätsunterstellungen der korrupten Akteure liegt. Korruption definiere sich als „Verkauf“ von Leistungen durch einen Amtsträger zu dessen persönlicher Bereicherung. Im privaten Bereich hingegen lasse sich nicht von Korruption sprechen. Als ein geeignetes analytisches Instrumentarium biete sich daher das institutionenökonomische Prinzipal-Agent-Klient-Modell in der von Edward C. Banfield entwickelten Form an, welches den Missbrauch von Kompetenzen als konstituierendes Moment von Korruption betrachtet. Dieses Modell postuliert die notwendige beiderseitige Freiwilligkeit der Akteure, die Korruption von verwandten Praktiken wie Erpressung eindeutig unterscheidet. Bezeichnendes Merkmal korrupter Beziehungen seien weiterhin die impliziten, gegenseitigen Fairnessvermutungen der Beteiligten, die sich entweder durch interpersonale Vertrauensbeziehungen oder durch generell wirksame Korruptionsnormen erklären ließen.

Die Verwaltungswissenschaftler ANTOON KERKHOFF und PIETER WAGENAAR stellten die methodologischen Prämissen des niederländischen Forschungsprojekts „Under Construction. The Genesis of Public Value Systems“ vor. Im Rahmen ihrer Untersuchungen erforschen Kerkhoff und Wagenaar die Genese und den Inhalt öffentlicher Wertesysteme als Grundlage und Rahmenbedingung von Verwaltungshandeln. Methodisch sind solche impliziten Wertesysteme nur in krisenhaften Momenten und öffentlichen Debatten greifbar. Die Skandalisierung korruptiver Praktiken und die explizite Thematisierung öffentlicher Wertvorstellungen in mehrdimensionalen Korruptionsdiskursen ermöglichen so über den eigentlichen Gegenstand der Korruption hinaus auch den Zugriff auf verschiedene Ebenen der Wertgenerierung und modifizierung. Anders als Graeff nutzen Kerkhoff und Wagenaar die leichter historisierbare Korruptionsdefinition von Michael Johnston, die die jeweiligen sozialen, gesetzlichen und diskursiven Rahmenbedingungen stärker berücksichtigt.

Die Sektion beschloss JENS IVO ENGELS mit Überlegungen zur unterschiedlichen Bewertung von korruptem Verhalten in der Vormoderne und Moderne. Dabei erwies sich Engels prinzipielles Votum für die Trennung des Attributs „korrupt“ von den so bezeichneten Handlungen für den weiteren Verlauf der Tagung als besonders fruchtbar. Auf der Untersuchungsebene müsse zwischen Diskurs und Praxis unterschieden werden, denn nicht Praktiken an sich seien „korrupt“, sondern erst ihre Beurteilung mache sie dazu. Im Lauf der Diskussion spitzte Pieter Wagenaar diese Beobachtung auf die Wendung „corruption does not exist“ zu. Davon ausgehend entwickelte Engels die These, dass die Vormoderne geprägt sei durch die Koexistenz verschiedener Normsysteme mit zum Teil gleichwertigen Geltungsansprüchen. So seien im Kräftefeld konkurrierender Normen Phänomene wie Patronagebeziehungen einerseits als „korrupt“ delegitimierbar, andererseits im Zeichen patronaler Fürsorge legitimierbar gewesen. Engels sieht erst in der Moderne eine Tendenz zur Vereindeutigung gesellschaftlich-moralischer Normen. Diese verharre jedoch in einem Spannungsverhältnis mit den komplexen Wirklichkeitsverhältnissen. Moderne Patronagesysteme widersprächen zwar der dominanten öffentlichen Norm, verfügten jedoch über tiefere Ausweichebenen der Moral, die innerhalb sozialer Subsysteme weiterhin legitimierend wirken könnten.

Anknüpfend an diese theoretischen Überlegungen widmeten sich in der von Christian Windler moderierten zweiten Sektion fünf Historiker dem Problem „Sozialkapital und Systemfunktionalität: ‚korrupte’ Netzwerkressourcen?“ Unter dieser Fragestellung ging STEFAN GORISSEN am Beispiel Preußens dem scheinbaren Widerspruch nach, dass trotz der Kritik merkantilistischer Theoretiker an dem mit Bestechung und Unterschleif durchsetzten Zollwesen des 18. Jahrhunderts seitens der Landesherren bewusst keine Versuche unternommen wurden, diese Missstände abzustellen. Den Grund für die Diskrepanz zwischen politischer Theorie und Verwaltungspraxis verortete Gorißen in unterschiedlichen Auffassungen über die Zielsetzung der staatlichen Wirtschaftspolitik: Aus merkantilistischer Perspektive hatte die staatliche Wirtschaftspolitik der Beförderung des Gemeinwohls zu dienen und sollte auf die Herstellung eines allgemeinen und gerecht verteilten Wohlstandes abzielen. Dagegen stand für viele frühneuzeitliche Regenten die Staatswirtschaft im Dienst militärischer Ambitionen und Erfordernisse, so dass Investitionen in eine langfristig angelegte Verwaltungsreform häufig unterblieben.

Da der Vortrag von Christiane Eifert krankheitsbedingt entfallen musste, folgte an dieser Stelle der Vortrag von ANDREAS SUTER. Auch er stellte für das 18. Jahrhundert politisch-theoretische Literatur politischen Praktiken gegenüber: Ausgehend von Jean Bodins Ausführungen zu unterschiedlichen Formen zwischenstaatlicher Geldzahlungen schilderte Suter die politische Praxis der teils öffentlich, teils im Geheimen geleisteten Geldzahlungen des französischen Königs an Inhaber politischer Schlüsselpositionen in der Alten Eidgenossenschaft. Der Staatshaushalt einiger Kantone speiste sich zu einem großen Teil aus diesen Zahlungen. Von diesem Geld profitierten ebenfalls viele Bürger, da es aus wahlkampftechnischen Gründen an die Wählerschaft weitergereicht wurde. Zu einer Skandalisierung der Bestechungspraktiken kam es immer dann, wenn das System des Geldflusses aufgrund bestimmter Faktoren nicht mehr funktionierte oder mit anderen Begründungen diskreditiert wurde.

Die nächsten drei Beiträge thematisierten die diskursive Bewertung von personaler Verflechtung und Korruption in politischer Theorie und Praxis. Zunächst beschrieb UWE WALTER das Verfahren der Wahlwerbung im spätrepublikanischen Rom. Es gründete auf dem Ausbau und der Pflege patronaler und freundschaftlicher Netzwerke, zugleich aber auch auf der direkten Verteilung von Geld und Sachwerten. Die letztgenannten, zunehmend abwertend als „ambitus“ bezeichneten Praktiken adressierten vor allem jene Wähler, die ihre Stimme nicht aufgrund sachlicher Erwägungen abgaben. Der unverhüllte „Stimmenkauf“ wurde von der Aristokratie zunehmend als bedrohlich und „ungehörig“ empfunden, konnte aber durch Gesetze und Gegenmaßnahmen nicht dauerhaft unterbunden werden. Dies lag zum einen an der Schwierigkeit, solch „korruptes“ von akzeptiertem Verhalten klar unterscheiden zu können, zum anderen an dem Umstand, dass einzelne Akteure aus dem sehr dicht geknüpften Personenverband der Aristokratie nur mit großem Aufwand dauerhaft zu eliminieren waren.

NICOLE REINAHRDT beschäftigte sich mit Patronage als Bestandteil der politischen Kultur der Frühen Neuzeit. Sie konstatierte einen zunehmenden Legitimitätsverlust patronaler Praktiken seit dem 17. Jahrhundert. Als Gründe dafür gab Reinhardt konkrete machtpolitische Umbrüche und konzeptionelle Neuorientierungen in der politischen Theorie und in der katholischen Moraltheologie an. Diese Veränderungen im politischen Handeln und Denken zogen eine prinzipielle Umdeutung des Interessenbegriffs nach sich, nach dem individuell-subjektive Bedürfnisse dem „objektiven“ Staatsinteresse dienten oder aber sich diesem unterzuordnen hatten.

Ebenfalls mit dem Spannungsfeld von Korruption und sozialen Netzwerken im 17. Jahrhundert setzte sich HEIKO DROSTE auseinander, indem er anhand eines anonymen Traktats aus dem Jahr 1661 die zeitgenössische Sichtweise auf das Verhältnis von Freundschaft, Patronage und Korruption im politischen Kontext aufzeigte. Die Institution „Freundschaft“ wurde von den Zeitgenossen zwar als problematisches Mittel zur Herrschaftsausübung angesehen, stellte aber gleichzeitig ein unabdingbares Instrument zur politischen und sozialen Stabilisierung im Allgemeinen und zum Ausbau des frühneuzeitlichen Staatswesens im Besonderen dar. Aus diesem Grund war politische Korruption kein klar definierbarer Begriff. Vielmehr hing es von der Bewertung im Einzelfall ab, ob es sich bei individuellen Vorteilsnahmen im Rahmen hierarchischer Beziehungen um ein legitimes oder illegitimes Verhalten handelte.

Die dritte Sektion, die von Lars Behrisch geleitet wurde, stand unter dem Titel „Korruption als politisch-moralisches Argument: Vokabulare, Kritiken und Konflikte“. In diesem Sinne beschäftigten sich die beiden ersten Beiträge mit theologisch-moralischen Bedeutungszuschreibungen des Korruptionsbegriffes und den daraus resultierenden Handlungsanleitungen. Ausgehend von der Begriffsgeschichte des Wortes „corruptio“ zeigte der Theologe KARL RENNSTICH die theologischen und religionshistorischen Aspekte des Korruptionsdiskurses auf. Er legte dar, dass Korruption in allen Weltreligionen nahezu unterschiedslos als eine der schlimmsten Formen der Sünde aufgefasst werde. Religiöse Schriften wenden sich häufig explizit gegen Machtmissbrauch, Bestechung und Nepotismus. Rennstich hob hervor, dass diese Kritik nicht zuletzt auf den mit diesen Praktiken verbundenen Vertrauensbruch abzielte.

SIMONA SLANICKA untersuchte anhand von Antikorruptionsdiskursen in Fürstenspiegeln des 14. bis 16. Jahrhunderts die Bedeutungen und den Bedeutungswandel des Wortes „corruptio“ und der damit verwandten Wortfelder. Mittels dieses Zugriffs konnte sie verwerfliche und als korrupt bezeichnete Handlungen wie Ämterkauf, Steuerhinterziehung oder persönliche Bereicherung an öffentlichen Gütern in direkte Nähe zur allgemeinen Herrschaftskritik rücken. Demnach basierte der frühneuzeitliche Korruptionsbegriff auf den zeitgenössischen Amts- und (Un-)Gerechtigkeitsvorstellungen, wodurch er sich grundlegend von modernen Bedeutungszuschreibungen unterscheide.

SANDRA MASS befasste sich in ihrem Beitrag mit Korruption im bundesrepublikanischen Entwicklungshilfediskurs der 1960er- und 1970er-Jahre. Den Ausgangspunkt ihrer Ausführungen bildete der in der Presse skandalisierte Fall des „goldenen Bettes“, bei dem die Ehefrau eines ghanaischen Ministers Anfang der 1960er-Jahre in London ein sehr teures Goldbett kaufte. Unter Rückriff auf die entwicklungs- und modernisierungstheoretischen Debatten der Zeit zeigte Maß, dass die öffentliche Empörung nicht auf mögliche korrupte Praktiken des ghanaischen Ministers im Besonderen abzielte. Vielmehr habe sich in den Äußerungen eine generalisierte westliche Sichtweise manifestiert, die Afrikanern grundsätzlich die Fähigkeit zu einem rationalen Umgang mit Geld absprach und einen Hang zur Verschwendungssucht unterstellte.

Die beiden letzten Vorträge der dritten Sektion richteten das Augenmerk auf den Zusammenhang zwischen Herrschaftsverfassungen, Konfliktstrukturen und dem Umgang mit Korruptionsphänomenen. So untersuchte NIELS GRÜNE auf der Basis eines amtsorientierten Analysekonzepts, wie in bestimmten politisch-sozialen Auseinandersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts korruptionsbezogene Devianzzuschreibungen mobilisiert wurden. Anhand von Beispielen aus dem Herzogtum Württemberg, der Reichsstadt Köln und dem Großherzogtum Toskana illustrierte er, dass wachsende Korruptionskritik in der Regel aus der Verknüpfung mit anderen herrschaftsrelevanten Konflikten resultierte. Namentlich die Gefährdung korporativer Teilhaberechte sei im Rahmen von Elitenkonflikten ein Katalysator für die interessengeleitete Mobilisierung eines Anti-Korruptionsvokabulars gewesen. Mit Blick auf Wandlungsprozesse schlug Grüne daher vor, die langfristige Verrechtlichung des Korruptionsbegriffes, also die Verengung seiner Primärbedeutung auf einen bestimmten Typus von Amtsvergehen, stärker als bisher aus einer politischen Praxis heraus zu erklären, die sich zur Durchsetzung von Partizipationsansprüchen seit der Frühen Neuzeit vermehrt auf korruptionsbezogene Normen stützte.

Auch MICHAEL HOENDERBOOM verfolgte in seiner Detailstudie über die Korruptionsvorwürfe gegen den Amtsrichter der niederländischen Stadt Gorinchem im 17. Jahrhundert die komplexe Beziehung von Korruptionsdiskursen und Herrschaft. Sein Projekt steht im Kontext des bereits in der ersten Sektion vorgestellten Forschungsverbunds „Under Construction“ und basiert auf dessen methodologischen Überlegungen. Seine Untersuchung demonstriert, dass Korruptionsvorwürfe erst dann virulent wurden, wenn opportunistisches Verhalten den impliziten öffentlichen Wertvorstellungen zuwider lief. Anhand des analysierten Korruptionsskandals gelang es Hoenderboom aufzuzeigen, aus welchen konkreten politisch-gesellschaftlichen Normen sich Korruptionsvorwürfe speisten und welchen Mechanismen diese Vorwürfe gehorchten.

Die vierte, von Matthias Braasch geleitete Sektion „Im Visier der dritten Gewalt: Aufklärung – Kriminalisierung – Prävention“ stand im Zeichen der normativ-gegenwartsbezogenen Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Der Rechtsökonom MATHIAS NELL referierte über die strategische Anwendbarkeit der strafmildernden Selbstanzeige im Kampf gegen Korruptionsdelikte. Auszugehen sei von dem spezifischen Charakter korrupter Konstellationen, die sich maßgeblich durch opportunistische Verhaltensmuster auszeichneten. Indem den an korrupten Praktiken beteiligten Tätern Strafmilderung in Aussicht gestellt werde, könne ihnen ein Ausstieg aus den korrupten Beziehungen erleichtert und damit die Aufdeckung strafbarer Handlungen ermöglicht werden. Damit die Selbstanzeige jedoch als Instrument zur Verbrechensbekämpfung dienen könne, dürfe sie nur dann gewährt werden, wenn die korrupte Transaktion bereits abgeschlossen, aber noch nicht entdeckt worden sei. Nur so könne verhindert werden, dass die Drohung mit Selbstanzeige zur Disziplinierung von Korruptionspartnern instrumentalisiert werde.

Mit dem Komplex der „Angestelltenbestechung“ und den strafrechtlichen Implikationen des Paragrafen 299 StGB setzte sich der Jurist MATTHIAS BRAASCH auseinander. Braasch verwies auf Lücken der Strafbarkeit in diesem Paragraphen, die dazu führten, dass Tatbestände, die moralisch-ethisch als korrupt empfunden werden, straffrei blieben. Ausgehend davon stellte er sowohl mögliche Reformansätze und Ausweitungen der Gesetzeslage vor als auch betriebsinterne Maßnahmen zur Eindämmung privatwirtschaftlicher Korruption.

Anschließend erläuterte der Rechtsanwalt HARALD SCHLÜTER die zivil- und vertragsrechtlichen Implikationen korrupter Geschäftspraktiken. Neben den möglichen Auswirkungen von Bestechungszahlungen auf Vertragsabschlüsse behandelte Schlüter unternehmensrelevante Aspekte wie die steuerliche Absetzbarkeit von Schmiergeldern und die rechtliche Einforderbarkeit von Ansprüchen, die durch korrupte Vereinbarungen begründet wurden. Abschließend stellte er einen zeitgemäßen Maßnahmenkatalog zur effektiven Identifizierung und Eindämmung betriebsinternen korrupten Verhaltens vor.

Den letzten Vortrag der Sektion hielt der Bielefelder Staatsanwalt JOACHIM STOLLBERG über die aktuellen Manifestationen von Korruption und Organisierter Kriminalität sowie die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung am Beispiel der Russischen Föderation. Dabei entwarf er ein pessimistisches Bild der derzeitigen russischen Rechtsnormen und -anwendungen, das im sozio-politischen Schock der Systemtransformation und Demokratisierung begründet sei. Effektive bi- und multilaterale Anti-Korruptionsmaßnahmen seien aufgrund verbreiteten Rechtsmissbrauchs und labiler Rechtsnormen nur schwer zu implementieren.

Kurze Zusammenfassungen und Bilanzierungen der Sektionsleiter eröffneten die Schlussdiskussion, in deren Verlauf erkennbar wurde, dass die Tagung die Auseinandersetzung über den wissenschaftlichen Umgang mit dem Thema „Korruption“ und seinen politisch-sozialen Implikationen auf ein neues Niveau gehoben hat. Einigkeit bestand vor allem darüber, dass man „Korruption“ nicht als feststehende Eigenschaft bestimmter Handlungen auffassen dürfe, sondern als variable Zuschreibungskategorie der sie begleitenden und die politische Kommunikation prägenden Deutungsmuster und diskursiven Praktiken. Entsprechend verlagert sich die Frage nach langfristigen Veränderungen und dem Korruptionsniveau unterschiedlicher Gesellschaften auf die Ebene der sozial eingebetteten Werteordnungen und der Konstruktion von Devianz. Methodisch umstritten blieb allerdings, ob darüber hinaus ein am modernen Begriffsverständnis orientiertes Analysekonzept notwendig sei, um den engeren Gegenstandsbereich einer historischen Korruptionsforschung zu profilieren und von wichtigen Kontextphänomenen wie Patronagebeziehungen, allgemeiner Herrschaftskritik oder theologisch-moralischen Verfallsvorstellungen abzugrenzen. Aus interdisziplinärer Sicht steht dieser noch junge Zweig der Geschichtswissenschaft somit gewissermaßen vor der Wahl, sich eher an ethnologische oder soziologische Zugangsweisen anzulehnen. Begriffshistorisch gewendet lautet die Frage, ob man einem semasiologischen oder einem onomasiologischen Ansatz den Vorzug geben möchte. Man darf gespannt sei auf den voraussichtlich 2009 erscheinenden Sammelband, der die Tendenzen und Fluchtlinien der historischen Korruptionsforschung einem breiteren Publikum zugänglich machen wird.

Kurzübersicht:

Sektion I: „Konzeptionelle Orientierungen und theoretische Interpretationsansätze“

Gerhard Anders (Zürich): „Korruption im sozio-kulturellen Kontext: aktuelle rechtsethnologische Forschungsansätze“
Dieter Haller (Bochum): „Korruption im Kontext europäischer Wohlfahrtsstaatlichkeit – ethnologische Perspektiven“
Peter Graeff (Bielefeld): „Vertrauen und Normen als Erklärungsgründe für korrupte Transaktionen“
Toon Kerkhoff (Leiden)/Pieter Wagenaar (Amsterdam): „Conceptualizing corruption“
Jens Ivo Engels (Freiburg): „Korruption und Modernität. Thesen zur Signifikanz der Korruptionskommunikation in der westlichen Moderne“

Sektion II: „Sozialkapital und Systemfunktionalität: ‚korrupte’ Netzwerkressourcen?“

Stefan Gorißen (Bielefeld): „Korruption und merkantilistische Staatswirtschaft: Preußen in der Regierungszeit Friedrichs II.“
Andreas Suter (Bielefeld): „Schwarzes Geld und Hohe Politik in der Frühen Neuzeit: vormoderne politische Systeme im Vergleich“
Uwe Walter (Bielefeld): „Patronale Wohltaten oder kriminelle Mobilisierung? Sanktionen gegen unerlaubte Wahlwerbung im spätrepublikanischen Rom“
Nicole Reinhardt (Lyon): „Patronage als Element politischer Kultur: Definition – Probleme – Krisen“
Heiko Droste (Stockholm): „Korruption unter Freunden. Zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit“

Sektion III: „Korruption als politisch-moralisches Argument: Vokabulare, Kritiken und Konflikte“

Karl Rennstich (Reutlingen): „Theologische und religionshistorische Aspekte von Korruption“
Simona Slanicka (Bielefeld): „Korruption in der politischen Theorie des 14. - 16. Jahrhunderts“
Sandra MaSS (Bielefeld): „Moderne Zahlungsmittel für Afrikaner? Geld und Korruption im deutschen Entwicklungshilfediskurs“
Niels Grüne (Bielefeld): „Anfechtung und Legitimation. Betrachtungen zu einer vergleichenden Analyse politischer Korruptionsdebatten in der Frühen Neuzeit“
Michel Hoenderboom (Amsterdam): „‘Integrity or infamy?’ Integrity in early-modern Dutch administration: the corruption scandal of Lodewijk Huygens, sheriff of Gorinchem“

Sektion IV: „Im Visier der dritten Gewalt: Aufklärung – Kriminalisierung – Prävention“

Mathias Nell (Passau): „Strategische Aspekte der Korruptionsbekämpfung: die strafmildernde Selbstanzeige“
Matthias Braasch (Bielefeld): „Die sogenannte Angestelltenbestechung: Erscheinungsformen und Entwicklungen im Bereich der Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr gemäß § 299 StGB“
Harald Schlüter (Bielefeld): „Korruption und Recht in Deutschland“
Joachim Stollberg (Bielefeld): „Die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität und Korruption unter besonderer Berücksichtigung der Ausgangslage in der Russischen Föderation“


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